MeToo, Gendered speech - sowohl hör- als auch sichtbar, Rechthaberei auf allen Seiten, der Vorwurf der fehlenden Empathie bzw. die Behauptung, andere könnten gar nicht verstehen bzw. nachempfinden, was man selbst durchlebe, weil sie einen anderen Hintergrund/Geschlecht/Ethnie hätten - viel Ärger und Aufbrausen gab es in diesem Jahr. Impfbefürworter Impfleugner, Klimaaktivisten, Klimaleugner, lügende Politiker, Politiker, die plötzlich zur Unfigur ihrer Partei wurden. Ach ja, und das 2. Jahr der Pandemie.
Ich habe einige Stimmen gefunden, die versuchen dagegenzuhalten, und das Pendel, das so dewrzeit so extrem hin- und herschwingt, ein wenig auszubremsen.
Evie Wyld. The Bass Rock. (2021) - auf Deutsch "Die Frauen", übersetzt von Tanja Handels
Dieses Buch wurde als Roman über die Gewalt, die Männer Frauen antun, beschrieben, aber das greift zu kurz. Es geht um Gewalt von Männern gegen Frauen, aber auch gegen Kinder, aus denen Männer werden, deren Gefühlswelt kaputt oder gestört ist und die dann entweder zu Tätern, Beschützern oder Wracks werden.
Da ist Ruth Hamilton, die mit ihrem Mann und dessen Söhnen nach North Berwick zieht, ein harscher Ort in Schottland im Schatten des Bass Rock, der durch die Zeiten dort im Wasser zieht und das Wasser gegen sich klatschen lässt. Ruth ist einsam, der Mann nie da, die Kinder bald auf einem Internat, niemand, dem sie sich wirklich anvertrauen kann und will und ein Pfarrer, der sich übergriffig um die Belange "gefallener" Frauen sorgt. ein halbes Jahrhundert später zieht Viv, die Stiefenkelin von Ruth in dasselbe Haus, um es auszuräumen und für den Verkauf herzurichtem. Dabei stolpert sie über die Familiengeschichte, die dunklen Geheimnisse die ihr Vater und Onkel aus dem Internat in sich verschlossen haben, aber auch über Phänomene, die ihr nicht ganz geheuer sind...
Spannend geschrieben, ein Buch gegen alle Gewalt von Stärkeren Schwächeren gegenüber.
Sahra Wagenknecht. Die Selbstgerechten (2021)
Ungewöhnlich für mich, ein Manifesto einer Politikerin zu lesen. Aber im Zuge der vielen Diskussionen zum Thema Klimawandel, MeToo, gendergerechte Sprache habe ich mich verstärkt gefragt, wo der blinde Fleck in diesen Diskussionen ist. Warum werden andere Meinungen so oft vertäufelt, statt hinterfragt und diskutiert zu werden?
Sahra Wagenknecht lädt zu solchen Diskussionen ein. Sie beschreibt die Entwicklung ihrer Partei, der Linken, in Richtung Neoliberalismus und wie sie sich, ihrer Meinung nach, immer mehr von ihren Wurzeln (also der sozialdemokratischen Idee zu Diensten der Arbeiterbewegung) getrennt hat. Wagenknecht sieht einen blinden Fleck der Bundespolitik in der Arroganz derjenigen, die sich auf der "richtigen Seite" wissen und alle anders denkenden mit Kilma-/Gender- oder anderer Keule abmahnen. Das Problem ist, dass soziale Gruppen nur noch untereinander miteinander "sprechen" bzw. chatten und Leute mit anderem Hintergrund weder sehen noch hören. Die priviligierte Mittelschicht, deren Kinder nicht nur studieren, sondern auch die Mittel haben, unbezahlte Praktika zu absolvieren, können leichter von oben herab auf arbeitslose Mütter herabblicken, die bei Aldi Fleisch aus Massentierhaltung kaufen, denn sie haben finanziell die Wahl zum Bio-Bauern zu gehen. Die arbeitslosen Mütter ggf. nicht. Jene werden dann aber bald politisch abgehängt, wenn ihre Sorgen und Nöte nicht gesehen werden und keinerlei Anstalten unternommen werden zu helfen. Diese Abkehr von den sozial Benachteiligten hat weitreichende Konsequenzen - die Deutlichste war vielleicht die Quittung, die die CDU nach der letzten Bundeswahl erhalten hat.
Wagenknecht fordert, das Augenmerk auf soziale Ungerechtigkeit zu legen und nicht zu versuchen, alles gleich zu reden und zu verwischen. Auch wenn ich nicht in allen Fällen ihrer Meinung bin (und sie gibt viele Beispiele), ist das Buch bedenkenswert und die Ideen sollten definitiv besprochen werden. Dass das nicht einfach ist, überrascht nicht. Aber vielleicht sieht man am Ende ein bisschen mehr und besonders auch die eigenen blinden Flecken.
Sven Regener. Glitterschnitter (2021)
Herr Lehmann, Karl Schmidt und all die anderen verkrachten Existenzen aus dem Kreuzberg der 1980er Jahre sind zurück. Alle getrieben, alle im Selbstzweifel und voller Anklage, alle zwischen Baum und Borke, aber alle am machen: Milchkaffee mit Hingabe, Pfefferminztee mit Kondensmilch (was wie "Walsperma aussah"), eine IKEA-Musterwohnung als Kunstinstallation (aber genauso wie dort, heile Welt - H.R. wollte es "nach der Neutronenbombe" nennen), und Bands, die mit Eierschneidern oder Bohrmaschinen installationsmäßig vor sich hin radauen. Niemand ist zufrieden mit seinem Namen: Frank will nicht Fränkie genannt werden, Karl nicht Charlie, H.R. nicht Heinz Rüdiger und Flo nicht Enno. Die Österreicher in Berlin haben Heimweh nach Melange und Sachertorte und wollen eigentlich nichts mit den Piefkes zu tun haben. Aber irgendwie kennen sich alle und brauchen sich. Denken und reden pausenlos, ohne wirklich etwas von sich preiszugeben.
Ich habe das Buch als Hörbuch, gelesen vom Meister himself, genossen. Wenn so eine breite Bremer Schnute, österreichert und berlinert und zwischendurch sehr neue Worte wie Agro verwendet, um das West-Berlin der 80er zu beschreiben, ist das schon urkomisch. Danach noch Element of Crime hören und die Vergangenheit ist ganz Gegenwart.
Juli Zeh. Über Menschen. (2021)
Juli Zehs neuer Roman erschien mir fast wie eine literarische Antwort auf Sahra Wagenknechts Manifesto. Der Hauptfigur Dora geht es nicht gut. Ihr Freund hat sich dem Klimaschutz verschrieben und wirbt für ein bewussteres und umweltschonenderes Leben in seinen Artikeln, die er für eine Zeitung verfasst. Dora ist nicht grundsätzlich anderer Meinung, aber sie findet die Diskussion zu einseitig und zu vereinfachend. Sie fühlt sich in eine Ecke gedrängt, in der sie ihre Zweifel nicht einmal mehr äußern darf, weil sie sofort mit einem "Das kann jetzt nicht dein Ernst sein.", ausgehebelt werden. So verlässt die Werbetexterin Berlin und geht in Brandenburg aufs Land, wo sich ihr Nachbar mit "Tag, ich bin hier der Dorf-Nazi" vorstellt. Dora will mit Nazis, AfD-Wählern und Rassisten nichts zu tun haben, aber nun ist sie gezwungen, sich mit den Meinungen und möglichen Gründen dafür auseinanderzusetzen. Das Haus, das sie gekauft hat, war zu DDR-Zeiten ein Kindergarten. Den gibt es schon lange nicht mehr und das Haus stand lange leer. Es gibt keinen Bäcker oder anderen Laden, keine Kneipe oder Park im Dorf. Der Bus zum nächsten Einkaufszentrum fährt einmal die Stunde. Wie einfach ist es, darauf zu pochen, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wenn es welche gibt. Hier ist nichts und die Leute fühlen sich verraten und verkauft. Trotzdem oder vielleicht deshalb sind sie hilfsbereite Nachbarn. Dora spürt die Spannungen, hört und sieht, wie der "Dorf-Nazi" ein homosexuelles Pärchen vollpöbelt, weil sie Ausländer bei sich arbeiten lassen. Aber dann steht er mit Farbe in ihrem Haus und streicht alle Wände. Ob das plausibel ist, weiß ich nicht. Und auch, dass beim Nazi ein Tumor festgestellt wird, der seine Aussetzer erklärt, kann ein bisschen als Entschuldigung für seine Ansichten interpretiert werden. Dora will irgendwie weg von Ideologien und versuchen, alle anderen einfach als Menschen zu verstehen. Oder wie es einer der beiden Homosexuellen bei der Beerdigung des Nazis sagt: "Er war ein Arschloch, aber er war einer von uns."
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